When Radio-Choreography is Calling. A Response.
Wir befinden uns in der Bibliothek des Tanzquartier Wien (TQW), in einem lang gezogenen, niedrigen, fensterlosen Raum. Drei Personen sitzen hinter einem langen Tisch, auf dem Mikrofone, Computer und Mischpulte stehen, dahinter schwere Vorhänge, die von der Decke bis zum Boden reichen. Ihnen gegenüber sind wir, das Publikum, in zwei Reihen teils auf Stühlen, teils auf dem Teppichboden platziert. Der Raum ist in gedämpftes Licht getaucht, das durch bunt blinkende Lichterketten aufgefrischt wird. Eine gemütliche, aber konzentrierte Stimmung breitet sich im Raum aus. Wir lauschen aber auch an anderen Orten, zu anderen Zeiten, in Küchen oder Archiven, am Schreibtisch, über das Autoradio oder die Webseite. Unsere Ohren sind durch Raum und Zeit verbunden, unsere Aufmerksamkeit auf das gleiche Ereignis gerichtet, und doch erfahren wir es anders.[1] Vor Ort empfangen uns Netta Weiser sowie Lola Tseytlin (Produktion) und Stefan Nussbaumer (Radio Orange). Netta Weiser ist Choreografin (Berlin, Köln, Tel Aviv) und Teil des Choreografinnenteams, das seit 2021 Radio-Choreography als grenzüberschreitendes performatives Radioprojekt erarbeitet.[2]
Auch für diese Episode wird eine Bibliothek gewählt, ein Ort der Kontemplation, des Wissens, der Geschichte. Aber jede Bibliothek bedeutet auch das Ausschließen von Wissen oder bestimmten Wissensformen. Mit Radio-Choreography wird eine andere Form der Geschichtsschreibung in diesen Raum des stillen Studierens gebracht. Sie verwandelt ihn in einen Ort der Performance, der Produktion, der künstlerischen Praxis. Netta Weiser empfängt uns mit einem breiten Lächeln – die Performance beginnt im Raum, bevor sie sich in die radioakustische Dimension erweitert –, die Hörer*innen andernorts werden Minuten später mit Weisers Stimme anhand von Erinnerungen und Fragmenten durch die Zeit geführt.
Weiser nimmt in dieser Episode verschiedene Rollen ein: Sie ist Choreografin, Moderatorin und Interviewerin. Sie performt sich selbst und gleichzeitig viele Radiomoderator*innen und Künstler*innen vor ihr. Sie wiederholt bestimmte Abläufe, Handlungen, Bewegungen und Geräusche. Zudem ist sie selbst als Künstlerin präsent, und als solche verkörpert sie – für einen Moment bzw. eine Performance innerhalb der Performance – die Künstlerin Elsa Enkel (1890–1933), die kurzzeitig auch in Wien, hauptsächlich aber in Griechenland aktiv war. Als Auftakt zu Elsa Enkels Chair Dance beschreibt Netta Weiser für ihre Hörer*innen erst den Stuhl, dann sich selbst als groß, mit kurzen schwarzen Haaren und behauptet, ein pinkes T-Shirt zu tragen. Die Anwesenden werden zu Kompliz*innen und lächeln verschmitzt über die Diskrepanz zwischen der Person vor Ort und der Beschreibung für die Hörer*innen. Eine Übung in der Macht der Vorstellung einerseits und ein Infragestellen von Geschichtsschreibung andererseits. Eine ewig divergierende Übersetzung von einem Medium in das andere: von einer Künstlerin in der Vergangenheit zu einer Künstlerin im Jetzt und weiter zur Imagination in unseren Körpern; von einem Objekt – dem Sessel des TQW – hin zu dessen Deskription. Ein kunsthistorischer Ausflug: Ceci n’est pas une pipe.
Teil der Performance, der wir im TQW beiwohnen und/oder jetzt oder später zuhören, ist die Erinnerung an die jeweiligen „Original“-Orte, die erzählend beschrieben werden. Die vergangenen Räume treten mit dem Raum des Jetzt in Berührung (dem Raum der Vorstellung im TQW wie auch dem Radioraum und den Vorstellungsräumen der Hörenden).
Im leicht ansteigenden, erleuchteten Gang zur Bibliothek performt Netta Weiser ihren eigenen Sesseltanz, mit dem Mobiliar des TQW. Sie nimmt einen der gestapelten Sessel und agiert akustisch für ihre Hörer*innen, sichtbar in unmittelbarer Nähe für das Publikum vor Ort. Der Sessel wird gezogen, gekippt, gedreht, erklommen, besessen. In unserer Vorstellung vermischt sich Sesseltanz mit Sesseltanz, eine Aufführung im Tanzquartier in Wien mit einer vergangenen Aufführung im Kotopouli-Theater in Athen.
Heraufbeschwört wird auch der Hair Dance von Shahrzad Nazarpour. Netta erzählt, dass die Performance das erste Mal in der Universität Teheran aufgeführt wurde, mit dem Abwurf des Hijab begann, worauf ein wildes Headbangen folgte. Die künstlerische Bearbeitung für Radio-Choreography fokussiert vor allem auf die Schleifgeräusche der Haare, die die Künstlerin in unserer Vorstellung präsent werden lassen. Auch hier ein Sprung durch das Raum-Zeit-Kontinuum, eine Brücke zwischen Teheran und Wien, zwischen früher und jetzt und später.
Auch Hanna Berger (1910–1962) folgt Weisers Einladung in den Kreis der Zeitenbeschwörung. Die Tänzerin war im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv, weshalb sie auch einige Zeit im Gefängnis verbringen musste. Ihre politische Praxis war eng mit der künstlerischen verwoben. In Radio-Choreography beginnen Hannas Tagebücher zu sprechen: „Erstes Thema: Durchwachte Nacht. Das rechte Bein auf die Pritsche gestellt, den rechten Arm auf das erhobene Knie gestützt, sodass der Kopf wieder in der rechten Hand zur Ruhe kommt. Diese lastende Haltung findet ihr Widerspiel in der linken Seite. Über dem schräg gespannten Standbein pendelt der linke Arm, einförmig, monoton – Symbol des langen Stundenzählens. Dieses dumpf-einförmige Verstreichen der Zeit erfährt seine gleichsam metronomhafte Betonung durch die Begleitung näherkommender und langsam sich entfernender, schwerer Schritte. Wache im Hof.“[3]
In der Bibliothek des Tanzquartier Wien sitzt das Publikum dicht an dicht in zwei Reihen gegenüber dem temporären „Radiostudio“ – auf Stühlen oder davor auf dem Boden. Darunter befindet sich auch der Gast des Abends, Eva-Maria Schaller, Tänzerin und Choreografin in Wien. Sie wird als Forschende, Expertin und Erzählende ins „Radiostudio“ und an den Tisch gebeten und spricht von den widerständigen künstlerischen Praktiken Bergers, die sich nicht indoktrinieren lassen. In ihren Tagebucheinträgen erahnte Berger auch den drohenden Krieg. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte sie die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich. Unsichere Zeiten, in denen alles in seinen gewohnten Bahnen läuft, und doch gerät das soziale Gefüge ins Wanken, ein Stillstehen im Momentum, ein Moment der Orientierungslosigkeit. Wohin führen uns diese vergangenen Gedanken, die heutige sein könnten? Zwei Monate nach dem Beginn des Angriffskriegs Wladimir Putins auf die Ukraine. Wieder ein gefährliches Kräftemessen in Europa, wieder unnötiges Leid und Vertreibung, wieder das Einschränken von Presse- und Meinungsfreiheit. Choreografien der Macht, die sich wiederholen, aber anders.
Durch unsere Wiederholungen verweben sich die zeitlichen Ebenen: Die Gegenwart (das Da-Sein in der Bibliothek und das Hören der Liveübertragung im Radio), die im Moment des Schreibens darüber Vergangenheit ist, wird mit der Vergangenheit der Rückblicke durch die künstlerischen Wiederholungen verknüpft. Gleichzeitig lassen diese Ebenen einen Ausblick in die Zukunft zu: Die künstlerischen Wiederholungen schon vergangener Praktiken wie auch die Dokumentation für die Ablage im Archiv verweisen auf ein späteres Übertragen- ([body-to-body] transmission) und Empfangenwerden. Dadurch wird die Wahrnehmung von Zeit brüchig, bekommt Löcher, zeitliche Linearität löst sich auf, und zukünftige, gegenwärtige wie auch vergangene Wiederholungen springen über oder berühren sich.[4]
Wir, die Rezipient*innen durch Raum und Zeit – lauschend vor den Lautsprechern, teilhabend im Raum, rekapitulierend am Schreibtisch –, empfinden ein Gefühl des Außen durchbrochen von Elementen des Zusammenfindens im gemeinsamen Beschwören der Zeiten. Ein Zusammenfinden, eine Selbstverortung auch im Moment der Performance. Wir folgen der Aufforderung Netta Weisers: Wir – in diesem Moment wir im Raum des TQW – schließen unsere Augen und reichen uns die Hände. Wir alle, die sich den vergangenen Performances in Loops nähern, sind in jeder Rezeptionsform Teil der Radio-Choreography, wir spannen ein multiperspektivisches Netzwerk, in dem sich die Geister der vergangenen Performances wieder, aber verschieden, entfalten und weiterwachsen können. Wir verschieben die Bedeutung von davor zu jetzt, knüpfen sie an die Umstände unseres Lebens und an unsere Umgebungen in unserer Zeit. Diese Zutaten werden durch uns und auf mehreren Ebenen Teil der Performance. Jede Wiederholung, sei es das Archivieren von Dokumenten, die künstlerische Weiterentwicklung, das Zusammensetzen einzelner Fragmente für die Performance und die Radioübertragung, das Weitererzählen des Gesehenen oder das Schreiben eines response auf einen call, hinterlässt Partikel rezenter soziopolitischer Logiken, einer Sozialisierung in einer spezifischen Umgebung und eines bestimmten Verständnisses von (Um-)Welt und aktualisiert dadurch die Performance.
Performatorium ist ein Künstlerinnen-Forscherinnen-Duo (Olivia Jaques / Marlies Surtmann) sowie ein Labor für praxisorientierte Forschung mit und durch künstlerische Mittel. Jaques/Surtmann kollaborieren seit zehn Jahren. Als Teil des Künstler*innen-Kurator*innen-Kollektivs Friday Exit (2012–2016) experimentierten sie mit verschiedenen Ausstellungs- und diskursiven Formaten und führten einen Buchclub. 2017 gründeten sie das Performatorium. Ein Fokus des Performatoriums liegt auf der Vernetzung der lokalen Performancelandschaft in Wien. Als unabhängige feministische Plattform für Performance bot es bis 2020 Raum für gemeinsames Experimentieren und Austausch. Aktuell agiert das Performatorium als Labor, entwickelt künstlerisch-performative Forschungsmethoden, aktiviert und aktualisiert vergangene Performances.
[1] Vgl. dazu Rebecca Schneider, die in einer Konversation mit Lucia Ruprecht davon spricht, dass Wiederholungen gleichzeitig „the same and different“ sein können; Rebecca Schneider / Lucia Ruprecht, „In Our Hands. An Ethics of Gestural Response-ability. Rebecca Schneider in conversation with Lucia Ruprecht“, in: Performance Philosophy, 3. Jg., Nr. 1, 2017, S. 108–125.
[2] Vgl. Netta Weiser u. a., Radio-Choreography, 2021, radio-choreography.de/#the-project (Stand: 23.06.2022).
[3] Hanna Berger, „An den jungen Tag, Opus 40“ (Tagebucheintrag), 1942, zit. nach Radio Choreography Episode 4, gelesen von Christel Dreiling (Originalmanuskript im Deutschen Tanzarchiv Köln).
[4] Vgl. Rebecca Schneider, Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London 2011.