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Interview von Dietmar Schwärzler mit Gérald Kurdian über HOT BODIES – STAND UP

Wir brauchen Obszönität*

 

Wir brauchen Obszönität*

DS Wie ist HOT BODIES – STAND UP zustande gekommen?

GK Ausgangspunkt des Projekts waren vor allem Fragen in Bezug auf Erotik, Erregung und alternative Formen von Reizen. Dann habe ich mich auf die Suche nach alternativen Formen der Sexualität begeben, die ich in verschiedenen sexuellen Szenen gefunden habe: Ökosex, Poly-/Pansexualität, Kink, BDSM. In diesen Micro-Queer-Szenen habe ich alternative Zugänge zum Körper und zu Beziehungen, zum Objektivieren und Subjektivieren entdeckt. Als ich mich mit Fragen der Erotik und der sexuellen Revolution auseinandergesetzt habe, ist mir klar geworden, dass mein eigenes Leben ein alternativer Ansatz ist und dass das vermutlich einen Einfluss darauf hat, wie ich meine Shows und meine Musik schreibe. Außerdem habe ich eine Foto-Sammlung angelegt, eine Art Tagebuch über sechs Jahre an Begegnungen, Sammlungen, Objektfetischisierungen, Obsessionen …

In HOT BODIES – STAND UP konntest du also deine Recherchearbeit mit deinen verschiedenen künstlerischen Praktiken als Musiker, Performer und Fotograf miteinander verbinden. Kombinierst du diese Elemente oft in deiner künstlerischen Tätigkeit?

Musik ist eine separate Angelegenheit, ich toure als Popmusiker. Dieses Jahr kommt übrigens ein Album von meinem musikalischen Alter Ego Tarek X heraus. Performance war schon immer ein Format, in dem ich Dinge miteinander verbinde. Einige meiner Fotos wurden veröffentlicht, ich habe auch für Modedesigner*innen gearbeitet. Ich habe meine Fotografien noch nie ausgestellt, die erste Ausstellung wird es 2020 geben. Mich interessieren auch Schnittstellen zwischen Musik, Film und Fotografie.

Welche Publikationen waren das? Modezeitschriften oder Lifestyle-Magazine oder queere Magazine?

Ich habe ein bisschen für queere und postpornografische Magazine gearbeitet; explizit sexuelle Arbeiten mit einem ausdrücklich künstlerischen Blickwinkel. Das ist etwas, das mir sehr gefällt. Meine Arbeit ist immer zwischen Dokumentation und Kunstfotografie angesiedelt.

Deine Fotos zeigen oft nur einzelne Körperteile, was eher mit der Vorstellung von Objekten zu tun hat als mit Subjekten, die ein Gesicht haben. Warum?

Es geht mir auch hier darum, was anturnt. Es ist so wie wenn man Musik hört, die den Körper auf eine andere Ebene bringt. Bei meiner Fotografie bin ich nicht daran interessiert, eine Beziehung zu der Person vor der Kamera aufzubauen, und ich mache keine Portraits. Was mich interessiert, ist, den pornografischen Blick auszuschalten. Etwas Subtiles, aber so, dass der explizite Text erhalten bleibt. Die Bilder sind eine Mischung aus Texturen, Objekten und Dingen, die in ihrer Gesamtheit zu sehen sind, während andere bruchstückhaft bleiben. Wenn du mit jemandem Sex hast, siehst du einzelne Teile ganz nah. Du hast nicht den Blick aus der Totalen, mit dem du das gesamte Subjekt siehst. Ich versuche, den erotischen Blick wieder einzuführen. Die Leute schauen sich den sexuellen Körper oder die Geschlechtsorgane an und finden das sehr direkt. Aber gleichzeitig bekommen sie von mir eine sinnliche Erfahrung statt einer pornografischen Ohrfeige. Es ist in Wirklichkeit ein Spiel.

Das Queeren des Männlichen ist ein weiteres Merkmal deiner Arbeit, z. B. verwendest du häufig einen Vocoder. Der Effekt, der dabei entsteht, ist nicht eine Frauenstimme, sondern eine sehr artifizielle. Das lenkt auch die Aufmerksamkeit auf die Maschine, die sie produziert. Was ist die Idee dahinter?

Ich möchte diese beiden Fragen unabhängig voneinander beantworten, auch wenn sie miteinander zu tun haben. Das Männliche zu queeren ist für mich sehr wichtig und hängt auch mit der Frage der bruchstückhaften Körper zusammen. Ich habe festgestellt, dass das Problem für mich und die meisten Leute, die sich als männlich identifizieren, die Kompaktheit des männlichen Körpers ist. In einen heteronormativen, patriarchalischen männlichen Körper kann man nicht eindringen, er ist „undurchdringlich“. Es ist ein Körper, der kein Darüber oder Hinein zulässt; weder auf ideologischer noch auch auf anatomischer Ebene. Z. B. befindet sich der G-Punkt von Männern im Anus. Das ist eine anatomische Tatsache. Wie gehen wir mit dieser Tatsache im Kontext der Sittlichkeit um? Ein weiteres Ziel war, einen performenden männlichen Körper darzustellen, der ein bisschen zweifelhaft ist. Er nähert sich an, möchte eine Verbindung zum Publikum herstellen, ist aber gleichzeitig nicht in der Lage, in Beziehung zu treten. Ich habe mich nie aktiv mit Objektivierung beschäftigt. Als Performer werde ich automatisch objektiviert. Bei meiner Promoarbeit in sozialen Netzwerken ist mir auch klar geworden, dass eine völlig andere Beziehung zum Publikum entsteht, wenn man ein bisschen Haut zeigt. Ich finde es wirklich interessant, in diesem Setting zum Objekt gemacht zu werden.

Technik ist für mich auch sehr wichtig. Ich bin sehr geeky und benutze viele IT-Tools.

Auch Ideen aus feministischer Science-Fiction inspirieren mich. Statt Eskapismus oder Auseinandersetzungen über die negativen Auswirkungen der Technik, schlage ich vor, die Potenziale, die in ihr stecken, zu nutzen – ich beziehe mich dabei ganz klar auf Donna Haraway. Was du erwähnt hast in Bezug darauf, kein anderes Wesen zu erschaffen – das war genau das, was ich erreichen wollte. Ich möchte ein Gefühl der Zuneigung gegenüber den technischen Aspekten des Objekts erzeugen. Die Stimme ist eigentlich ein Tor zur Welt, die du dir anschauen kannst, z. B. die Apple-Fenster, die uns allen so vertraut sind. Sie sind eher so etwas wie Postkarten oder eine persönliche Bildersammlung als der kommerzialisierte, kapitalistische Apple. Es ist eine Einladung, die Technik als Möglichkeit zu sehen und mit ihr warm zu werden.

In deinem Skript ist der Penis deprimiert, weil er es satt hat, ein Phallus zu sein. Damit kommen wir zum Klito-Manifest. Warum hast du dich als schwuler Mann dafür entschieden, dich auf die Vagina bzw. die Klitoris zu konzentrieren?

Mir gefällt die Idee, ein Mitstreiter für verschiedene Anliegen zu sein. Ich habe das Gefühl, dass wir heutzutage die weiblichen Organe zeigen müssen, und zwar aus einer feministisch-materialistischen Perspektive. Wir müssen die Vulva, die Klitoris zeigen, um den Fantasien über weibliche Sexualität ein Ende zu setzen. Was Männer betrifft, geht es, glaube ich, genau in die andere Richtung. Wenn es um sinnliche Wahrnehmung geht, müssen wir nach innen schauen, um die Ritualisierung, die Mechanisierung und das Konsumdenken in Bezug auf die Sexualität abzuschaffen. Ich habe nie etwas gegen Orgien oder etwas in der Art gehabt – darum geht es nicht. Ich mag Orgien, besonders wenn sie in meiner sinnlichen Wahrnehmung etwas auslösen, wenn ich mehr über meine Ängste erfahre. Ich wollte ein Manifest für Organe machen. Die erste Idee dazu war ein deprimierendes Lied für den Penis, ihn jammern zu lassen. Und dann habe ich mir gedacht: Das haben wir schon so oft gesehen, Penisse sind überall – in der Architektur usw. Ich wollte stattdessen einem anderen Organ eine Stimme geben. Ich habe viel mit meinen feministischen Freundinnen darüber gesprochen, ob das für sie ein Problem wäre oder sie es als Provokation ansehen würden, und die meisten von ihnen haben gesagt: Nein, das ist okay.

Im Stück beschließen du und dein Alter Ego Tarek X, zu einer Ökosex-Party zu gehen. Warst du im wirklichen Leben jemals auf so einer Party, und wenn ja, wie war das?

Ja, natürlich. Es ist genau wie der Eindruck, den du im Stück bekommst. Es geht darum, eine erotische Beziehung zu deiner Umgebung zu ritualisieren, zu dem, was wir als Natur bezeichnen: zu Bäumen, zum Wasser, zum Erdboden. Annie Sprinkle und Beth Stephens haben z. B. Hochzeitszeremonien mit Wasser, Erde, Felsen oder dem Mond veranstaltet – das hört sich äußerst witzig an. In einem anderen Ritual liegen sie nackt in der Erde und du kannst dich dazulegen und kuscheln. Erotik ist ein essenzielles Werkzeug, um Verbundenheit entstehen zu lassen. Das ist der Punkt, der mich am Ökosex-Manifest interessiert. Dort heißt es: Wenn du dich mit der Erde verbindest – sie nennen sie übrigens Geliebte Erde statt Mutter Erde –, dann liegt dir deine Geliebte am Herzen, du willst, dass sie glücklich ist, du willst ihr Lust spenden, ihr Vergnügen bereiten. Das ist eine symbolische Idee, die mir gefällt. Ich schlage eine alternative Beziehung zum Berühren und zum Zuhören vor, eine alternative Beziehung zu Objekten. Dann tust du, wonach dir ist. Ich mag diese Einladung zum Spielen.

Du erwähnst eine sexuelle Utopie in deinem Promotext. Wie fickt man revolutionär?

Menschen haben Sex, um Begegnungen mit etwas zu haben, das sie bereits kennen und das sie kennen wollen. Die Leute erwarten voneinander eine Abfolge von bestimmten Handlungen und setzen sich selbst unter Druck, diesem Schema folgen zu müssen. Wir kennen die sexuelle Dramaturgie, es ist meistens dasselbe: ein Kuss, ein Blowjob, Fingern, Penetration und offensichtliche Orgasmen. Wie wäre es, einmal etwas zu tun, das wir nicht kennen? Da zu sein, zuzuhören. Einen Kontext zu schaffen, in dem man keine Handlungen herunterspulen muss, keine Angst vor dem eigenen Verlangen zu haben braucht oder sich wegen irgendwelchen speziellen Vorlieben schuldig fühlen muss. Revolutionäre Sexualität fängt dort an, wo wir sagen: Lassen wir die Sprache hinter uns, um abnormal zu werden. Wir brauchen Obszönität.*

 

Dietmar Schwärzler ist Film- und Medienvermittler beim Filmverleih sixpackfilm, freier Kurator und Schreiber. Konzept und Organisation zahlreicher Projekte im Film- und Ausstellungskontext zu Themen wie österreichische Film- und TV-Geschichte, Freundschaft als Lebens-, Produktions- und Aktionsform, queere Kunstpraktiken und feministische Performancekunst. Ko-Herausgeber des DVD- & VOD-Labels INDEX (index-dvd.at), Redaktionsmitglied der Filmzeitschrift Kolik.Film (kolikfilm.at). Herausgeber der Monografie Friedl Kubelka vom Gröller. Photography & Film (JRP-Ringier, 2013), Ko-Herausgeber des Buches Pink Labor on Golden Streets. Queer Art Practices (Wissenschaftliche Reihe der Akademie der bildenden Künste Wien, Sternberg Press 2015). Zuletzt Herausgeber einer weiteren Monographie Friedl Kubelka vom Gröller, One Is Not Enough, Photography & Film II (Buchverlag Walther König 2018).

 

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