Wir sind nie allein!
Ein Individuum ist die kleinste mögliche Einheit einer Gesellschaft. Wenn man der Wortbedeutung folgt – Unteilbares –, dann bezeichnet es auch den Kern einer Person, aus welchem sich das Ich herausbildet. Zwangsläufig trifft dieses Ich aber auf andere und beginnt somit, sich wieder zu verschmelzen und mehr zu werden. Dies ist der Fall, da der Mensch ein interaktives Wesen ist, das sich mit anderen zusammentut oder einfach zusammen ist, da es nur in einem sozialen Gefüge und im Austausch mit anderen – und dabei ist es gleichgültig, ob in materieller oder immaterieller Form – sein kann. Allein aus diesem simplen Zusammenhang könnte man meinen, dass sich der Fokus von den einzelnen Individuen hin zu einem kollektiveren Verständnis bewegt. Aber dies ist in unserer westlichen Gesellschaft nicht der Fall – vielmehr ist das Gegenteil zu beobachten. Die Gemeinschaft nimmt im politischen Diskurs eine dem Einzelnen untergeordnete Rolle ein. Und dies ist zugegebenermaßen ein eigentümliches Phänomen, das widersprüchlicher nicht sein könnte.
Ebendiesem Schein des überdimensionalen Ichs oder, wie es in der Ankündigung heißt, der „fortschreitenden Entsolidarisierung“ setzt Michael Turinsky seine neue Performance Reverberations entgegen. Dies tut er auch, indem er mit einem starken Team zusammenarbeitet; Performance und Co-Choreografie: Andreas Guth, Mzamo Nondlwana, Elizabeth Ward; Bühnenbild: Jenny Schleif und Ines Kirchengast; DJing; Dubster und Hyko Dubz; Kostümbild: Lise Lendais und Ines Kirchengast; Licht: Andreas Lendais; dramaturgische Betreuung: Ines Borovcnik; somatische Contribution: Georg Blaschke; Produktion: Angela Vadori und Kira Koplin; Kommunikation/ PR: Simon Hajos. Michael Turinsky schafft es als Leiter und Choreograf, diese unterschiedlichen Ebenen für sich wirken zu lassen und zu einem Gemeinsamen zusammenzuführen. Zudem werden die Zuschauer_innen durch die raffinierte konzentrische Anordnung der Sitzplätze zu weiteren Akteur_innen des Stücks. Die Beobachterinnen beobachten die Beobachter, in deren Mitte die Performer_innen tanzen.
Aus einer Langsamkeit heraus aktivieren die drei Tänzer_innen Andreas Guth, Mzamo Nondlwana und Elizabeth Ward ihre Körper und nehmen sich die Zeit, gemeinsam anzukommen. Sie bilden eine Gruppe trotz oder eben gerade wegen uneinheitlicher identitärer Kategorien, die auf sie angewendet werden könnten: Unterschiedliche Geschlechter treffen auf verschiedene Hautfarben und diese wiederum auf diverse körperliche Funktionalitäten. Auch sie scheinen in dieses Szenario, in welchem Licht und Sound egalitäre Rollen zukommen, einfach so hineingebeamt worden zu sein. In silberne Anzüge gekleidet, bilden sie eine Einheit und bauen so ein gemeinsames Vokabular von Bewegungsmustern auf, das sich von einem Körper zum anderen fortpflanzt, bis die Grenzen sich aufzuheben beginnen. Bewegung wird hier zu etwas Gemeinsamem, etwas Kollektivem, auf das die drei zugreifen. Sie kreisen und werden gekreist in diesem Raum, in welchem Fragen nach den Kategorien identitärer Zuschreibungen unwichtig werden. Sie bewegen sich gemeinsam und werden dabei zu keiner stumpfen Masse, sondern entwickeln eine hierarchielose Achtsamkeit, der auch die Lust und Freude am Tanz gemeinsam ist. Durch gegenseitiges Umarmen und Stützen entsteht aus drei Körpern einer – eine der vielfältigen Transformationen, die in der choreografischen Entwicklung angelegt sind. Durch Wiederholung von Bewegung beginnen die drei Performer_ innen zu changieren. Sie bewegen sich vor und zurück und verlieren dabei die eigene Linie, indem sie eine bemerkenswerte körperliche Übersetzungsleistung vollbringen – vom einen zur anderen und wieder zurück.
Michael Turinsky kreiert auf diese Weise ein Szenario, das die von ihm beschworene solidarische Praxis in einen Möglichkeitsraum holt, der versucht, alle mit einzuschließen. Das absolute Anerkennen von Diversität sowie die Freude, daraus etwas Gemeinsames zu entwickeln, sollten öfter im Mittelpunkt stehen. Nichts ist schlimmer und langweiliger als das Streben nach menschlicher Monotonie, nach dem kleinsten Ich-Teilchen, das dann auch noch etwas ganz Spezielles sein soll. Da ist um einiges raffinierter, was wir hier zu sehen bekommen haben – den Versuch, einen utopischen Raum real werden zu lassen, in welchem sich alle Beteiligten gemeinsam einem Prozess stellen, der ein Miteinander der Achtsamkeit heraufbeschwört, in dessen Mittelpunkt die Freude an der gemeinsamen Sache steht.
Andrea Salzmann lebt und arbeitet als Dramaturgin und Performancekünstlerin in Wien. Sie hat mit Sabine Marte, Doris Uhlich, Barbis Ruder, Teresa Vittucci und anderen gearbeitet. Seit 2012 unterrichtet sie an der Akademie der bildenden Künste Wien im Fachbereich Performative Kunst. 2017 war sie Artist in Residence bei Bilbao Arte, 2019 ist sie BKA-Stipendiatin im Sewon Art Space in Yogyakarta. Ihre zentralen Fragestellungen konzentrieren sich auf gesellschaftliche Zusammensetzungen und die damit einhergehenden politischen Veränderungspotenziale.
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