TQW Magazin
Julia Wieger über Behind Your Eyeballs von Salma Said und Miriam Coretta Schulte

Woran willst du dich erinnern?

 

Woran willst du dich erinnern?

Behind Your Eyeballs endet mit einer Übung für das Publikum: Wir sollen unsere Augen schließen und uns einen Moment aus dem Stück vorstellen, an den wir uns erinnern wollen. Mir fallen die beiden runden Scheiben ein, mit denen die Choreografinnen und Performerinnen – Miriam Coretta Schulte und Salma Said – Fragmente einer Videoprojektion einfangen. Sie halten die Scheiben in die Projektion von demonstrierenden Frauen. Die Aufnahmen stammen aus dem 858 Archive of Resistance – einem Online-Videoarchiv der Revolution in Ägypten im Jahr 2011. Ein Archiv des Widerstands, zusammengetragen und aufgebaut vom Mosireen Collective , das selbst Teil der Protestbewegung war und dem auch Salma Said angehört.

„Woran willst du dich erinnern?“, fragen die Performerinnen. Sie bewegen sich durch die Projektion und fangen mit ihren Scheiben Bildteile auf. Sie suchen nach Ausschnitten in den bewegten Bildern, an die sie sich erinnern wollen. In der Menge der vorbeiziehenden Demonstrantinnen richten sie ihre Scheiben auf eine ältere Frau, um sich daran zu erinnern, auf Demonstrationen zu gehen, wenn sie selbst einmal in dem Alter sein werden. Als Nachricht an ihre eigene Zukunft und Zuruf an eine andere Generation von Protestierenden. Sie halten die Scheiben in die Projektion und lenken unsere Aufmerksamkeit auf Demonstrantinnen, die Zeitungscovers in die Höhe strecken. Ein einfaches Mittel des Protests. Sie zeigen uns eine Person, die durchs Bild läuft und dabei in die Kamera zwinkert. Vielleicht sieht sie die Kameraperson an, oder uns, das Publikum? Worin liegt unsere Verantwortung, wenn wir Materialien sammeln und sie archivieren? Welche Beziehungen gehen wir ein, wenn wir mit Dokumenten des Widerstands arbeiten?

Die in die Projektion gehaltenen Scheiben sind Teil einer Technik des Erinnerns, mit der sich Miriam Coretta Schulte und Salma Said dem Archivmaterial nähern, um sich an die Erfahrungen der Protestierenden zu erinnern, die vom Staat verleugnet und bedroht werden; um Verbindungen zu einer Gegenwart herzustellen – in der Proteste in Ägypten nach dem Coup von 2013 noch gefährlicher geworden sind. Die Körper der beiden Performerinnen interagieren mit den Bewegungen der Demonstrantinnen, sie gehen zu ihnen und suchen nach Erinnerungen, die sie weitertragen wollen. Es ist eine Technik für widerständige Archive, die Dokumente prekärer Errungenschaften bewahren; ein Versuch, Verbindungen zu gewaltvoll verhinderten Möglichkeiten und unterbrochenen Kämpfen herzustellen.

Beim nachdenken darüber, woran ich mich erinnern will, kommt mir aber auch noch eine andere Szene in den Sinn. Zu Beginn des Stücks erzählen Miriam Coretta Schulte und Salma Said davon, wie sie sich kennengelernt haben und wie sie zur Arbeit mit Archiven gekommen sind. Erinnerst du dich, wo du während des Falls der Berliner Mauer warst? Am 11. September 2001? Im März 1979 – während der Islamischen Revolution im Iran? Wann hast du begonnen, dich für Archive zu interessieren? Für das Body Archive und das 858 Archive? Wann kam das Theater in dein Leben? Dabei umarmen sie sich, ringen miteinander und tanzen zusammen.

Am Ende des Stücks denke ich, dass Miriams and Salmas Freundschaft ein Teil widerständiger Archive ist. Sie erinnert mich an meine eigene langjährige und enge Freundschaft, die während des Arbeitens mit Archiven entstanden ist. Bei Rercherchen, bei der Arbeit an Videos und Installationen, beim Texteschreiben, beim Konzipieren von Workshops und Ausstellungen. Sie erinnert mich an Momente, in denen wir uns in Archiven vor Entsetzen oder vor Erschöpfung auf den Boden legen mussten oder Lachkrämpfe hatten. An unseren Wunsch, in Bilder zu steigen und zu lernen, mit den Gespenstern der Archive zu leben. Die, wie Avery Gordon meint, in Zuständen auftauchen, „in denen sich ungelöste oder unterdrückte gesellschaftliche Gewalt bemerkbar macht.“[1] Dafür arbeiten wir zusammen und zusammen mit Archiven und rund um sie herum; mit den Dokumenten, die in ihnen aufbewahrt werden, den Personen, die sich um sie kümmern, und mit ihren Gespenstern.

Als wir unsere Augen wieder aufmachen, ist die Bühne dunkel und leer. „Das ist eure Zukunft!“, sagt uns eine Stimme aus dem Off. „Eine fragile Zukunft“, denke ich mir. Sie hängt auch davon ab, woran wir uns mit unseren Körpern erinnern, welchen Geistern wir zuhören und was wir uns hinter unseren Augäpfeln vorstellen können.

 

Julia Wieger arbeitet als Künstlerin, Forscherin und Pädagogin zwischen Geschichtsarbeit, Stadtforschung und visueller Kunst. Kollektive und queer-feministische Ansätze spielen in ihren Arbeiten eine wichtige Rolle. 2012 gründete sie mit Nina Hoechtl das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken (SKGAL). Als SKGAL haben Wieger und Hoechtl unter anderem den dokumentarischen Essayfilm SPUKEN IM ARCHIV! (2017) produziert, die Ausstellung DUNKLE ENERGIE – Feministisch organisieren, kollektiv arbeiten (2019) kuratiert und das Recherche- und Installationsprojekt HOCH DIE LAPPEN (2022) realisiert.

[1] Avery Gordon Ghostly Matters: Haunting and the Sociological Imagination. Minneapolis, 2008, S. xvi.

 
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