You are losers but I will always sleep with you – eine Alpenraumnovelle I cunt face
Ich hasse Musicals. An der Côte d’Azur ist dieses Jahr das Wasser blauer als sonst, dank des Eintritts, der nun an den Stränden verlangt wird. Natürlich bin ich, wie auch in meiner kuratorischen Praxis, für Inklusion – dennoch ist es angenehm, am Strand nicht alle paar Meter erkannt zu werden!
Mich ereilt eine Nachricht aus Wien mit der Anfrage, über das neue Musical von Charlotte Gash zu schreiben. Sie würden niemand anderen finden – Wien sei eine intellektuelle Wüste, was Schreiber*innen angeht. Eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit. Die Kuration der nächsten Biennale und der documenta sowie die Eröffnung eines Privatmuseums in Dubai unter der Schirmherrschaft meiner Familie aus Düsseldorf steht an – ich bin also gefragter denn je. Da dies aber auch auf dem Erfolg meiner letzten institutionellen Ausstellung Tunnel of Inclusion gründet und nicht zuletzt der kontroversen Arbeit der Künstlerin Charlotte Gash geschuldet ist, fühle ich mich dieser Aufgabe verpflichtet, wenn sie auch weit unter meinen Fähigkeiten liegt. Und hier, liebe Leser*innen, geht es nicht um plumpe Angeberei, nein, wie schon mein guter Freund HUO (Hans Ulrich Obrist) einmal sagte: „Auch Ponys müssen mit hohen Absätzen bestiegen werden!“
Zur Premiere, nur für geladene Gäste, komme ich 35 Minuten zu spät. Am Eingang treffe ich auf einige Fans, sie grüßen und wollen Widmungen in mein letztes Buch Die Liebe zur Malerei – oder wie ich lernte, dass Öl nicht nur Teil einer Vinaigrette sein muss. In der ersten Reihe sind zwei Plätze für mich reserviert, mit meiner Ankunft kann die Show The Sound of Losers endlich beginnen.
Die Story lässt sich so zusammenfassen: Die Performanceklasse hat die Schnauze voll vom notorischen Pleitegeier GASH, erschreckend gut interpretiert von Charlotta Öberg, einer promiskuitiven, alkoholabhängigen 45 (!) Jahre alten Studierenden. Zur Strafe wird GASH von der Professorin der Performanceklasse, verkörpert von keiner anderen als Ikone Danielle Pamp, in die Malereiklasse geschickt, um dort die Professur zu übernehmen. Hier findet GASH fünf hirnlose schwedische Maler vor, deren Namen sich alle auf GASH reimen und die sich durch den schrillen Sound einer Pfeife jeglicher Ansage von Frau Schöne, der 95-jährigen Vermieterin der Atelierräume „who used to party at the Gürtel all the time“, ausgezeichnet dargestellt von Legende Jojo Ahlkvist, unterwerfen. Nach anfänglicher Ablehnung der hohlen skandinavischen Bitcoin-Miner gespielt von Ahlkvist (MASH), Pamp (HASH), einer atemberaubenden Hilma Bäckström in einer Doppelrolle (BASH, LASH) und dem Genie Charlotte Gash höchstpersönlich (CASH) schafft es GASH – vermeintlich –, ihre spezielle Art der Kunstpraxis an die jungen Blonden weiterzugeben; performative Realitätsverweigerung gepanscht mit Betäubungsmitteln und sexueller Verlustiererei.
An dieser Stelle fühle ich mich an meine eigene Zeit in Wien erinnert und schicke eine SMS an einen kanadischen Maler, den ich vor 20 Jahren, während eines kuratorischen Workshops, den ich gemeinsam mit Professor Julian Wolfgang Göthe abhielt, heimlich datete – Sam, wundervoll kräftiges Haar! Während ich in Erinnerungen daran schwelge, wie wir gemeinsam nackt durch den Donaukanal schwammen, dreht sich das gesamte Musical mit einem Mal um 180 Grad: Aus GASHs Idee, gemeinsam mit den schwedischen Einfaltspinseln eine Art therapeutisches Musical aufzuführen, eröffnet sich ganz überraschend eine neue Ebene: Wir, als Publikum, sind plötzlich Teil dieser Meta-Inszenierung. Zum ersten Mal nehme ich meine Sonnenbrille ab. Als würde mir das Musical selbst auf einmal den Spiegel vorhalten, folgt ein selbstreferenzieller Einschub auf den anderen. GASH, auf sich selbst verweisend mit „slut“, deren „favourite thing“ es ist, ihre Freund*innen dazu zu bringen, eigens geschriebene Drehbücher nachzuspielen, dekonstruiert die Narration und verwischt die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Mit der Zeile „Musicals are the lowest form of art“ antizipiert sie die Kritik in meinem Kopf und wirft sie mir selbstbewusst vor meine Margiela-Boots. Ich fühle mich ertappt. Danielle Pamps sonore Stimme dringt in meine Ohren und sticht mir ins Herz: „The only true loser is sitting in front of me!“ Pamp schaut mir tief in die Augen, und das Lachs-Tramezzino aus der Pause kommt mir fast wieder hoch.
Als Ahlkvist samt verblüffend echt wirkender Perücke ein weiteres Mal als Frau Schöne auf einem Bürosessel auf die Bühne rollt und mit einer idiosynkratischen Liza-Minelli-Hommage die gesamten Räumlichkeiten der Wiener Staatsoper zum Erleuchten bringt, kralle ich mich fest an meinen Nachbarn Klaus Biesenbach und kann meine Tränen nicht länger zurückhalten. In einer luftabschnürenden Geschwindigkeit wird nun in den restlichen vier Akten die Handlung auf den Kopf und dreimal durch den Meta-Fleischwolf gedreht, sodass mir und dem Publikum klar wird: Hier wird eine neue Form der Kunst geboren, eine Art Dadaismus 2.0, klüger und folgenschwerer als jemals zuvor, an Genialität seinesgleichen suchend. Die Analogie zwischen Wien, dem Potemkinschen Dorf par excellence (siehe Ringstraßen-Architektur), und dem aus imprägniertem (!) Karton gefertigten Bühnenbild ist nur einer der gestalterischen Geniestreiche von Charlotte Gash.
Meine einzige Kritik gilt also nur meiner eigenen jahrelangen Verblendung. Denn nachdem nun auch die aktuelle Ausgabe der Texte zur Cunt Charlotte Gashs Kunst des postdramatischen Meta-Musicals als „Tableau vivant des 21. Jahrhunderts“ ausgezeichnet hat, muss auch ich mir eingestehen: Ich lag falsch, mein Leben lang! Die einzig wahre Kunstform ist und war immer schon das Musical! Mein Dank gilt der Jahrhundertkünstlerin Charlotte Gash. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, anzukündigen, dass Charlotte Gash 2026 in Venedig nicht nur den österreichischen und den britischen Pavillon bespielen wird, sondern auch den deutschen und den amerikanischen!
Lang lebe GASH, and the rest of you all get a solo!
Die Kuratorin ist Mitherausgeberin der Texte zur Cunt, Direktorin und Professorin für Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Städelschule in Frankfurt / Oder sowie die kürzlich ernannte und einzige Ehrenvorsitzende des MoMA in New York. Sie begann ihre Karriere in den 1990er Jahren in der Galerie Buchholz in Köln, zunächst als Assistentin, dann als Direktorin. 1999 kuratierte sie gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester, der Performancekünstlerin Bon Vaginée, die wegweisende Ausstellung Dranbleiben in der historischen Fabrikhalle Simmering mit den Künstler*innen Laura Hinrichsmeyer, Stine Ølgod und Len Schweder. Ihr neuestes Buch Skulpturensohn – dein Klötzchen ist größer als mein Klötzchen ist im Winter 2024 bei Sternberg Press erschienen.