TQW Magazin
Sarah Sander über Urban Flourishing von Isabel Lewis

Zum Zelebrieren des Zusammenlebens

Zum Zelebrieren des Zusammenlebens

Plötzlich durchzieht ein mir wohlbekannter Geruch den Raum. Waldboden oder Komposthaufen? Isabel Lewis hat kleine schwarze Zettel verteilt, welche die Geruchsträger sind. In der Abstraktion des schwarzen Quadrats ist der Geruch schwer zu bestimmen. Verrottende Blätter, nasse Erde und ein Herbstspaziergang tauchen vor meinem inneren Auge auf. Ein olfaktorischer Assoziationsraum, der zwischen meinen individuellen Erfahrungen und dem kulturell geteilten Wissen oszilliert, das in dem schwarzen Quadrat gespeichert ist. Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit: Geruch als Medium des Eingedenkens, als Mittler für unvermittelte Erinnerungen, wie bei Proust. Malewitsch vom Kopf auf die Füße gestellt; so ließe sich Isabel Lewis’ Kunstverständnis vielleicht beschreiben, das sich in Urban Flourishing zeigt. Eine Ausrichtung der Kunst von der Abstraktion hin zum sinnlichen Erleben, zur geteilten Erfahrung, zum Zusammen-Sein.

Urban Flourishing ist eine „guided experience“, wie es in der Ankündigung der Kooperation zwischen dem Tanzquartier Wien und dem Belvedere 21 heißt, ein geleitetes Erleben von Gerüchen, Geschichten, Gedanken und Sounds. Die meiste Zeit sitzt die Künstlerin, die Tanz, Literaturkritik und Philosophie studiert hat, den Blick auf ihren Computerbildschirm gerichtet inmitten einer minimalistischen Raumarchitektur aus lose gruppierten Bühnenelementen, die dem Publikum als Sitz- und Liegegelegenheiten dienen. Ihre dunkle, ruhige Stimme leitet unsere Aufmerksamkeit auf die urbane Umgebung, die vor dem raumhohen Fensterband des Belvedere 21 zu sehen ist: Ein paar Vögel ziehen über den blauen Flecken Himmel, der sich über dem sonnenbeschienenen Herbstlaub des Quartier Belvedere zeigt. Eine postkartengleiche Szene, die mich an den Indian Summer in den Catskill Mountains denken lässt, den ich einmal durch Autofensterscheiben an mir vorbeiziehen sah. Isabel Lewis’ Stimme erfüllt den Raum, der in jeder Ecke mit Lautsprechern ausgestattet ist. Verdoppelt und verstärkt durch ein Audioprogramm erreicht sie mich körperlich, resoniert in meinem Brustraum. Resonanzraum Brust. Und ich sinne ihren Worten nach, die unsere Aufmerksamkeit auf Lebensformen wie Flechten vor dem Fenster lenken: „multi-organismic life forms“, die Bäume und Steine gleichermaßen bedecken, ohne parasitär an ihren Trägerstrukturen zu partizipieren. Flechten sind weder Pflanzen noch Pilze, sagt sie, sondern eine ganz eigene Lebensform, die aus der Symbiose von Mykobionten und Photobionten entsteht. Erst in der Synthese bilden sich die typischen Wuchsformen und Farben der Flechten heraus, die also eine Lebensgemeinschaft aus Pilzen und Pflanzen sind.

Isabel Lewis fragt sich in Urban Flourishing, wie wir uns anders einstimmen können, „how to tune ourselves differently“, um uns mit solchen Lebensformen verbunden zu fühlen. Mit den Lebensformen, mit denen wir unser tägliches Leben teilen, die wir aber doch häufig kaum wahrnehmen, nichtmenschliche Wegbereiter*innen, die sie sind. Wie wir den „beat“, den Grundton der Dinge, die uns umgeben, wahrnehmen können, ohne einer kitschigen Vorstellung von Natur oder Natürlichkeit anheimzufallen. Eine erste Antwort auf diese Fragen findet Isabel Lewis in Rosalyn Bologhs Konzept der „erotic sociability“, eine weitere in Carolyn Dinshaws „queerness of time“. Um die Idee einer sinnlichen Geselligkeit mit den asynchronen Zeitlichkeiten zusammenzubringen, die durch Mythen, Geschichten und Traditionen in unserem Leben präsent sind, erzählt Lewis die Liebesgeschichte, die hinter dem vielleicht bekanntesten Ballettstück unserer Hemisphäre steht: Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit dabei nicht nur auf die alltägliche Gegenwart des Märchenhaften in unserer spätmodernen Welt, sondern auch auf die kulturell tradierte Liebe zwischen Menschen und Nichtmenschlichem, die sich in Schwanensee zeigt. Es sind solche Lebens- und Liebesformen „in between“, die Isabel Lewis in ihren Performances immer wieder aufspürt, um die Berührungspunkte unseres gegenwärtigen Lebens mit Natürlichem und Übernatürlichem vorzuführen. Sie sensibilisiert ihr Publikum für die durchlässigen Grenzen unserer modernen Selbstkonzeption, um ein erweitertes Zusammenleben zu zelebrieren.

Durchsetzt ist das sinnlich-diskursive Programm von vereinzelten Tanzeinlagen, die Erkundungen des Zusammenhangs von Sound, Körper und Raum sind. Dabei geht die Bewegung mal von der Körpermitte, dann von den stampfenden Beinen oder den wippenden Schultern aus: „I’m my beat, I’m my beat, I’m my beat“; „Wanting to follow my desire.“ Die „hosted occasion“, wie Isabel Lewis ihre Performancepraxis nennt, ist eine Versuchsanordnung über die affektive Kraft von Geräuschen, Geschichten und Gerüchen, über Imagination und Perzeption. Die Temporalität der „Erfahrung“, die ein auditiv-sensorisches Erlebnis ist, ist eine undramatisch gedehnte Zeit, die uns Gelegenheit gibt, einzutauchen, auszusteigen, wiederzukommen. Die diskursive Performance folgt nicht der klassischen Dramaturgie von Aufführungen, sondern gibt uns die Möglichkeit, uns einzulassen, ohne uns dazu zu zwingen. Die Einbeziehung des Raums – des Außenraums der städtischen Natur vor den großen Fenstern des Ausstellungsraums, in dem wir gemeinsam mit den Boxen jede*r für sich sind, sowie die Einbeziehung unserer Körper als Resonanzräume für die Sounds, Geschichten und Gedanken – macht Urban Flourishing zu einem möglichen Erleben des Verbundenseins mit den Geschichten, Steinen und Menschen, die Teil unseres Lebens und unserer Umwelt sind. Isabel Lewis’ Performancepraxis, die nichts zur Aufführung bringt, sondern einen Erlebnisraum schafft, bietet damit eine kollaborative Auseinandersetzung mit Fragen nach Möglichkeiten an, mit anderen Menschen und nichtmenschlichen Wesen und Seinsweisen zu kooperieren. Die multisensorische Erfahrung hinterlässt ein angeregtes Vibrieren – und einen anhaltenden Herbstgeruch im Raum.

Zuletzt wabert ein leises Gewitter durch den Saal. Es ist durch das vorsichtige Ziehen des Mikrofons über die Holzplatten entstanden, auf denen Isabel Lewis sitzt. Geloopt und verstärkt durch das Audioprogramm und gelayert mit ihrem betörenden Gesang vibriert das donnernde Geräusch in meiner Brust, hallt nach. Der Beat, langsam und getragen, findet seinen Resonanzraum, ohne in den Bauch zu gehen. Der Körper wird von ihm berührt, aber nicht ferngesteuert. Das Publikum ist ruhig, versunken, de-zentriert. Und der Wind zerrt am zusammengeklappten Sonnenschirm vor dem Fenster, das den Blick auf die Stadt im Abendlicht freigibt.

 

Sarah Sander ist Medienkulturwissenschaftlerin (Berlin/Wien) und arbeitet derzeit am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Ihre Lehr- und Forschungsinteressen schließen Raumdispositive, Medienpraktiken und Subjekttechniken ein, Postkoloniale und Queer Theorien sowie maritime Mobilitäten und Archäologien der Globalisierung. Neben ihrer akademischen Arbeit war und ist Sander als freie Kulturschaffende immer wieder auch in Festival- und Ausstellungszusammenhänge verwickelt, u. a. bei Crossing Europe, beim FORUM der Berlinale, in den KunstWerken und beim Haus der Kulturen der Welt, Berlin.

 
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